2014 Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht 441
89 Akzessorische Normenkontrolle und Lärmschutz - Zuständigkeit zur Vornahme einer akzessorischen Normenkontrolle - Gesetzmässigkeit von Art. 31 Abs. 2 LSV Aus dem Entscheid des Regierungsrats i.S. X. vom 13. Februar 2013 gegen den Entscheid des Departements Bau, Verkehr und Umwelt (BVU)/Stadtrat Y. (RRB Nr. 2013-000100). Aus den Erwägungen 4. Sachverhalt/Baubewilligungsentscheid
(...)
Die Abteilung für Baubewilligungen BVU erteilte dem Be-
schwerdeführer eine befristete lärmschutzrechtliche Ausnahmebe-
willigung nach Art. 31 Abs. 2 LSV und stimmte dem Baugesuch da-
mit unter Auflagen zu.
Der Stadtrat Y. vertritt in seinem Entscheid den Standpunkt,
dass Art. 31 Abs. 2 LSV im Widerspruch zu Art. 22 USG stehe. Der
Stadtrat Y. versagte Art. 31 Abs. 2 LSV die Anwendung und lehnte
das Baugesuch auf Grund eines Verstosses gegen die Lärmschutzvor-
schriften ab (Überschreitung der Immissionsgrenzwerte). (...).
5. Zuständigkeit zur akzessorischen Normenkontrolle
Der Regierungsrat und die Gerichte sind gehalten, Erlassen die
Anwendung zu versagen, die Bundesrecht, kantonalem Verfassungs-
oder Gesetzesrecht widersprechen (§§ 90 Abs. 5 und 95 Abs. 2 KV,
§ 2 Abs. 2 VRPG). Anderen Behörden, insbesondere erstinstanzli-
chen Verwaltungsbehörden, steht dagegen nur die Kontrolle von
kommunalem Recht zu (§ 2 Abs. 2 Satz 2 e contrario VRPG). Der
Gesetzeswortlaut bestimmt übereinstimmend mit dem Verfassungs-
text, dass die kommunalen Behörden nicht berechtigt sind, Normen
des kantonalen Rechts und des Bundesrechts zu überprüfen. Ver-
fassungs- und Gesetzgeber wollten damit eine unkoordinierte Nor-
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menkontrolle jeder rechtsanwendenden Behörde verhindern. Festzu-
halten ist jedoch, dass der verfassungsrechtlich statuierte Normen-
kontrollauftrag des Regierungsrats im Rahmen eines beliebigen
Hauptverfahrens verlangt werden kann. Ergeben sich in einem vor
einer unteren Verwaltungsstelle hängigen Verwaltungsverfahren
Zweifel an der Rechtmässigkeit einer von ihr anzuwendenden Be-
stimmung, so ist dieses Verfahren zu sistieren und der Regierungsrat
um Vornahme einer akzessorischen Normenkontrolle anzugehen
(KURT EICHENBERGER, Verfassung des Kantons Aargau, Textaus- gabe mit Kommentar, Aarau und Frankfurt a.M. 1986, N. 18 ff. zu
§ 90 KV).
Dem Stadtrat Y. stand es deshalb nicht zu, die Gesetzmässigkeit
von Art. 31 Abs. 2 LSV zu prüfen und im Ergebnis diesen Artikel
nicht anzuwenden. Die gegenteiligen Argumente des Stadtrats Y. (...)
widersprechen dem insoweit klaren Verfassungs- und Gesetzeswort-
laut und erweisen sich damit als unberechtigt. Die vom Stadtrat Y.
durchgeführte akzessorische Normenkontrolle verletzt § 90 Abs. 5
KV und § 2 Abs. 2 VRPG. Die entsprechende Rüge des Beschwerde-
führers ist berechtigt (...).
6. Gesetzmässigkeit von Art. 31 Abs. 2 LSV in Bezug auf den
konkreten Anwendungsfall
6.1
Alle wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen sind in der Form
des Bundesgesetzes zu erlassen (Art. 164 Abs. 1 Satz 1 BV). Zu den
wichtigen Bestimmungen gehören gemäss Art. 164 Abs. 1 Satz 2 BV
insbesondere die grundlegenden Bestimmungen über die in Art. 164
Abs. 1 Satz 2 lit. a-g BV ausdrücklich genannten Bereiche. Rechtset-
zungsbefugnisse können durch Bundesgesetz übertragen werden, so-
weit dies nicht durch die Bundesverfassung ausgeschlossen wird
(Art. 164 Abs. 2 BV). Der Bundesrat erlässt rechtsetzende Bestim-
mungen in der Form der Verordnung, soweit er durch Verfassung
oder Gesetz dazu ermächtigt ist (Art. 182 Abs. 1 BV). Art. 164 Abs.
1 BV soll sicherstellen, dass das Parlament die ihm zukommenden
Gesetzgebungsaufgaben erfüllt und diesen nicht mittels Delegations-
bestimmungen ausweicht. Er soll auch den Schutz der Volksrechte
gewährleisten. Das Parlament darf grundsätzlich keinen wichtigen
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Regelungsbereich dem Bundesrat überlassen und auf diese Weise
den direktdemokratischen Einflussmöglichkeiten entziehen. Bei der
Beurteilung der Frage, ob eine Bestimmung im Sinne von Art. 164
Abs. 1 Satz 1 BV wichtig ist und daher in der Form des Bundesgeset-
zes erlassen werden muss, sind verschiedene Kriterien zu berück-
sichtigen. Massgebend ist namentlich, ob die Bestimmung einen er-
heblichen Eingriff in die Rechte und Freiheiten der Privaten vorsieht,
ob von der Bestimmung ein grosser Kreis von Personen betroffen ist
oder ob gegen die Bestimmung angesichts ihres Inhalts mit Wider-
stand der davon Betroffenen zu rechnen ist (BGE 133 II 331 E. 7 und
7.1 mit weiteren Hinweisen). Der Bundesrat darf jedoch, auch ohne
entsprechende ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung, direkt ge-
stützt auf Art. 182 Abs. 1 BV das Gesetz vollziehende Verordnungen
erlassen. Dem Vollziehungsverordnungsrecht des Bundesrates sind
durch das Legalitäts- und Gewaltenteilungsprinzip in vierfacher Hin-
sicht Schranken gesetzt. Eine Vollziehungsverordnung muss sich auf
eine Materie beziehen, die Gegenstand des zu vollziehenden Geset-
zes bildet (1.), darf dieses weder aufheben noch abändern (2.), muss
der Zielsetzung des Gesetzes folgen und dabei lediglich die Rege-
lung, die in grundsätzlicher Weise bereits im Gesetz Gestalt
angenommen hat, aus- und weiterführen, also ergänzen und spezifi-
zieren (3.) und darf dem Privaten keine neuen, nicht schon aus dem
Gesetz folgenden Pflichten auferlegen (4.), und zwar selbst dann
nicht, wenn diese Ergänzungen mit dem Zweck des Gesetzes in Ein-
klang stehen (BGE 129 V 95 E. 2.1 mit weiteren Hinweisen). Noch
nicht abschliessend geklärt ist die Frage, ob die Bundesversammlung
im Rahmen ihrer Rechtssetzungsbefugnisse den Erlass von wichtigen
Bestimmungen im Sinne von Art. 164 Abs. 1 Satz 1 BV durch eine
Delegationsnorm im Bundesgesetz an den Verordnungsgeber übertra-
gen darf nicht (BGE 133 II 331 E. 7.2.2 mit weiteren Hinwei-
sen).
6.2
Gemäss Art. 22 Abs. 1 USG werden in lärmbelasteten Gebieten
Baubewilligungen für neue Gebäude, die dem längeren Aufenthalt
von Personen dienen, unter Vorbehalt von Absatz 2 nur erteilt, wenn
die Immissionsgrenzwerte nicht überschritten werden. Sind die Im-
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missionsgrenzwerte überschritten, so werden Baubewilligungen für
Neubauten, die dem längeren Aufenthalt von Personen dienen, nur
erteilt, wenn die Räume zweckmässig angeordnet und die allenfalls
notwendigen zusätzlichen Schallschutzmassnahmen getroffen wer-
den (Abs. 2).
Den Vollzug von Art. 22 Abs. 2 USG regelt der Bund in der
LSV wie folgt: Sind die Immissionsgrenzwerte überschritten, so dür-
fen Neubauten und wesentliche Änderungen von Gebäuden mit lärm-
empfindlichen Räumen nur bewilligt werden, wenn diese Werte ein-
gehalten werden können: (a.) durch die Anordnung der lärmempfind-
lichen Räume auf der dem Lärm abgewandten Seite des Gebäudes;
oder (b.) durch bauliche gestalterische Massnahmen, die das
Gebäude gegen Lärm abschirmen (Art. 31 Abs. 1 LSV). Können die
Immissionsgrenzwerte durch Massnahmen nach Absatz 1 nicht ein-
gehalten werden, so darf die Baubewilligung nur erteilt werden,
wenn an der Errichtung des Gebäudes ein überwiegendes Interesse
besteht und die kantonale Behörde zustimmt (Abs. 2). Die Grundei-
gentümer tragen die Kosten für die Massnahmen (Abs. 3).
6.3
6.3.1
Art. 22 Abs. 2 USG enthält zwar keine direkte Ermächtigung an
den Bundesrat, die Norm in einer Verordnung auszuführen. Der
Gesetzestext verwendet aber mehrere unbestimmte Begriffe, welche
es dem Bundesrat ohne weiteres erlauben, direkt gestützt auf Art. 182
Abs. 1 BV und vor allem Art. 39 Abs. 1 USG (vgl. Ingress zur LSV)
eine Art. 22 Abs. 2 USG vollziehende Verordnungsbestimmung zu
erlassen. Ohnehin ist der Bundesrat beauftragt, Planungs-, Immissi-
ons- und Alarmwerte festzulegen (Art. 13, 15, 19 und 23 USG). Die
lärmschutzrechtliche Ausnahmebewilligung (Art. 31 Abs. 2 LSV)
stellt inhaltlich keine besonders wichtige Bestimmung im Sinn von
Art. 164 Abs. 1 BV dar, welche mindestens einer expliziten Er-
mächtigung im Gesetz bedürfte bzw. welche eigentlich auf Stufe
Bundesgesetz erlassen werden sollte. Der Erlass der Vollziehungs-
verordnung verletzt damit das Gewaltenteilungsprinzip nicht.
6.3.2
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Das Legalitätsprinzip ist als weitere Schranke des Vollziehungs-
verordnungsrechts des Bundesrats zu beachten. Damit kommt der
Gesetzesauslegung und der Ermittlung des Sinns und Zwecks des
Gesetzes massgebliches Gewicht zu.
Dazu folgendes: In seiner ursprünglichen Fassung verlangte
Art. 22 Abs. 2 aUSG (AS 1984 1122) bei überschrittenen
Immissionsgrenzwerten, dass Baubewilligungen für Neubauten, die
dem längeren Aufenthalt von Personen dienen, nur erteilt werden,
wenn die notwendigen zusätzlichen Schallschutzmassnahmen getrof-
fen und die Räume zweckmässig angeordnet werden.
Aus den Materialien ergibt sich, dass diese Fassung von Art. 22
Abs. 2 aUSG gestützt auf einen Abänderungsantrag der nationalrätli-
chen Kommission in das Gesetz aufgenommen wurde, welcher die
bundesrätliche Gesetzesvorlage aufweichte. Der Bundesrat wollte in
seiner dem Parlament unterbreiteten Fassung in lärmbelasteten Ge-
bieten nämlich nur die Errichtung von (unbewohnten) Gebäuden,
welche entsprechend ihrer Nutzung weniger schutzbedürftig sind
(z.B. Garagen, Geräteschuppen u.dgl.) erlauben (Botschaft 79.072 zu
einem Bundesgesetz über den Umweltschutz USG, vom 31.Oktober
1979, BBl 1979 III 749, S. 799, 842). Der Nationalrat beschränkte
demgegenüber den Geltungsbereich des Artikels ausdrücklich auf
Baubewilligungen für neue Gebäude, welche dem längeren Aufent-
halt von Personen dienen, und sah zusätzlich die Erteilung von
Baubewilligungen vor, falls die notwendigen Schallschutzmassnah-
men getroffen und die Räume zweckmässig angeordnet werden
(Amtliches Bulletin - Die Wortprotokolle von Nationalrat und Stän-
derat, AB 1982 N S. 395 Votum Schmid). In der nationalrätlichen
Debatte gab der zuständige Bundesrat darüber hinaus auf die Frage,
ob der Errichtung neuer Gebäude wesentliche Umbauten und Erwei-
terungen gleichgestellt sind, der Annahme Ausdruck, dass der Begriff
"neue Gebäude" weit ausgelegt werden soll. "Vor allem dann, wenn
ein neues altes Gebäude erweitert und sich vielleicht inskünftig
in diesem Gebäude Personen aufhalten, was vorher im alten Gebäude
nicht der Fall war; dann scheint mir eindeutig zu sein, dass die Aufla-
gen, wie sie hier in Artikel 19 festgelegt sind eingehalten werden"
(AB 1982 N S. 396 Votum Bundesrat Hürlimann). Der nationalrätli-
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che Vorschlag von Art. 22 Abs. 2 USG wurde vom Ständerat ohne in-
haltliche Diskussion übernommen (AB 1983 S S. 267 f.).
Die heute gültige Fassung von Art. 22 Abs. 2 USG beschloss
die Bundesversammlung am 21. Dezember 1995, wobei die von der
nationalrätlichen Kommission eingebrachte Änderung ohne Erläute-
rung und Diskussion im Plenum angenommen wurde (AB 1995 N
S. 1332 ff.; AB 1995 S S. 830). Die Gesetzesänderung vom 21. De-
zember 1995 erfolgte im Übrigen bereits unter Geltung der vom
Bundesrat im Jahr 1986 erlassenen LSV und damit auch in Kenntnis
von Art. 31 Abs. 2 LSV.
Aus den Gesetzesmaterialien folgt zusammengefasst, dass die
Bundesversammlung die Anforderungen an die Erteilung von Baube-
willigung in lärmbelasteten Gebieten gegenüber dem ursprünglichen
bundesrätlichen Vorschlag in zwei Schritten abschwächte.
6.3.3
Wie bereits erwähnt lässt Art. 22 Abs. 2 USG Raum für eine
bundesrätliche Vollziehungsverordnung. Der Bundesgesetzgeber
überliess dem Bundesrat Gestaltungsspielraum bei der Ausfüllung
der im Gesetzestext unbestimmten Begriffe "zweckmässige Anord-
nung" und "allenfalls notwendigen Schallschutzmassnahmen". Dabei
kommt insbesondere der erst im Jahr 1995 in den Gesetzestext aufge-
nommenen Einschränkung der "notwendigen Schallschutzmassnah-
men" durch das Wort "allenfalls" Bedeutung zu. Es darf davon
ausgegangen werden, dass der Bundesgesetzgeber mit der damals
vorgenommenen Abschwächung der gesetzlichen Anforderungen
klarstellen wollte, dass die Ausnahmebewilligung gemäss Art. 31
Abs. 2 LSV vom Gesetzestext noch gedeckt ist. Jedenfalls ist der
Tatsache der damals bereits erlassenen LSV bei der Überprüfung der
Gesetzesmässigkeit von Art. 31 Abs. 2 LSV erhebliches Gewicht bei-
zumessen. Bezugnehmend auf GRIFFEL/RAUSCH bedeutet diese grundsätzliche Bejahung der Gesetzeskonformität von Art. 31 Abs. 2
LSV, dass der Ausnahmetatbestand einschränkend anzuwenden ist
und dass die Kritik an der Anwendung des Ausnahmetatbestands als
Regel durchaus ihre Berechtigung hat (ALAIN GRIFFEL/HERIBERT RAUSCH, Kommentar zum Umweltschutzgesetz, Ergänzungsband zur 2. Auflage, Zürich 2011, N 14 zu Art. 22). Überwiegende Inte-
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ressen sind deshalb grundsätzlich zurückhaltend anzunehmen und
deren Annahme darf in keinem unlösbaren Widerspruch zu Sinn und
Zweck des Gesetzes stehen (Erw. 6.2 und 6.4).
Der Anspruch auf Erteilung einer dem Sinn und Zweck des Ge-
setzes entsprechenden (Ausnahme-)Bewilligung kann im Übrigen
auch aus dem Verhältnismässigkeitsprinzip (Art. 5 Abs. 2 BV) abge-
leitet werden, welches sämtliches staatliches Handeln umfasst.
Zusammengefasst kann damit festgehalten werden, dass Art. 31
Abs. 2 LSV als Vollziehungsverordnungsbestimmung einer gesetzes-
konformen Auslegung entspricht und insoweit auch angewendet wer-
den kann und muss.
(...)
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